ERKUNDUNGEN 10 | 3:45 Min
Die Zeit ist eine physikalische Größenart. Das Formelzeichen der Zeit ist t, ihre SI-Einheit ist die Sekunde s.
Soweit zum Populärwissen aus der Online-Enzyklopädie Wikipedia. Doch nur auf den ersten Blick ist die Zeit ein fest stehendes und nicht veränderliches Naturgesetz.
Die Zeit ist wie alle formulierten Naturgesetze ein Werk des Menschen. Daher lohnt eine nähere Betrachtung der Umstände. Denn im Umkreis von Lost Places besteht ein Konflikt mit der Zeit und den von ihr bestimmten Abläufen. Mit der Metapher vom Zeitgeist kommt man diesen Besonderheiten besser auf die Spur. Als Ausdruck des verbreiteten Gedankengutes eines bestimmten Zeitabschnittes bietet er einen praktischen Einstieg in das Thema.
Hierarchien ändern sich
Der Zeitgeist ist das formulierte Selbstverständnis dessen, was in unsere aktuelle Zeit gehört und was nicht. Er legt auch fest, wo sich etwas in der Hierarchie des Wertvollen befindet. Die Orte, die dem nicht entsprechen, sind aus dieser Klammer herausgefallen. Sie sind nicht zeitgemäß, also aus der Zeit gefallen. Sie lassen sich nicht mehr in der Hierarchie verorten. Den woken Zeitgeistern sind sie demzufolge suspekt. Wer dem Zeitgeist fest auf dem Schoß sitzt, muss Fragen um andere Wertigkeiten ausblenden.
Übersetzt man den krummen Anglizismus Lost Place, stößt man auf das Attribut verloren. Es bringt eine moralische Ausrichtung ins Spiel. Die Lost Places haben den Zeitbezug und damit ihre einstige Bedeutung verloren. So droht ihnen ein gesellschaftlicher Boykott. Er schränkt ihre Nutzbarkeit im Alltag ein und stuft sie im Wertekanon zurück. Es ist eben so. Der Zeitgeist kann glaubwürdig wie unwidersprochen herumspuken.
Was aus der Zeit gefallen ist, hat seine symbolische Strahlkraft verloren. Der Verlust materieller Wertigkeit gesellt sich schnell hinzu. Daher rührt auch die mitleidsvolle bis bedauernde Haltung beim Betrachter verlorener Orte. Man kann das moralische Verlorensein auch als eine schicksalhafte Wendung verstehen. In Folge technischer oder gesellschaftlicher Entwicklungen werden nicht mehr zeitgemäßen Dinge aus ihrer Bedeutung entlassen. Der Zeitgeist degradiert sie zu Relikten.
Beiträge zum kollektiven Gedächtnis
Das Ablassen von unmodernen Dingen ist nicht von vornherein negativ besetzt. Doch Entwicklungen und Veränderungen im Zeitablauf erfordern Anpassungen. Damit ist das Ablassen ein Stück Selbstschutz, um sich nicht selbst aus dem aktuellen Zeitablauf zu verabschieden. Es ist aber nicht egal, was man ablegt, da bestehen erhebliche Unterschiede. Mit einem Kleidungsstück, einem Alltagsgegenstand oder technischen Artefakten verbindet man lediglich persönliche Bezüge und Erinnerungen. Gebäudeensemble, technische Systeme und anderes im öffentlichen und gesellschaftlichen Raum haben einen höheren symbolischen Wert. In Abstimmung mit dem Zeitgeist steuern sie wichtige Deutungsmuster zum kollektiven Gedächtnis hinzu.
Im Augenblick des Verschwindens aus dem öffentlichen und gesellschaftlichen Raum werden oft persönliche Bezüge hergestellt. An diesem Punkt setzen die Nostalgie-Wellen an. Je nach Thematik können sie sich durchaus bis zum Zeitgeist hinaufschaukeln. Doch diese nostalgischen Bezüge verharren zumeist in einem spielerischen Stadium. Den kurzzeitig erinnerten Verlust möchte man nicht wirklich rückgängig machen.
Etwas aufgeweichte nüchterne Gesetze
Der sensiblere Umgang mit der Zeit und den aus ihr gefallenen Artefakten ist noch nicht sehr alt. So kannte die Stadtentwicklung in früheren Zeiten keine Bestandswahrung. Was neu war, stand in der Achtung, Altes war von besserem überwunden und höchstens noch zur Weiterverwendung als Steinbruch zu gebrauchen. Mit dem Erreichen von Grundstandards und dem raschen Wachstum im Industriezeitalter wuchs auch das Interesse am Bewahren. Der verschwindenden Orientierung wollte man mit Bewahrung und Musealisierung Einhalt gebieten. Viele historische Artefakte hat man dadurch neu bewertet und der Nachwelt gesichert. Aber man kann nicht alles aufheben, für die Erinnerung an das Vergangene reichen einige wenige Zeugen aus.
Doch Zukunft braucht Herkunft
– so der bekannte Satz des Philosophen Odo Marquard. Es erscheint sinnvoll, sich der eigenen Herkunft durch einen sensiblen Umgang mit noch vorhandenen Artefakten zu versichern. Das bewahrt auch vor der Täuschung, dass alles Neue neu erfunden wurde und die Notwendigkeit seines Gebrauchs wie selbstverständlich mitbringt. Andererseits muss nüchtern festgehalten werden, dass man in einem Museum nicht leben kann.
Die noch vorhandenen, aber verschwindenden Artefakte vergangener Zeiten sind Zeitzeugen, in denen man lesen und entdecken kann. Darin ähneln sie den Zeitkapseln, jenen Behältnissen, in denen man tagesaktuelle Dinge in entstehende Bauwerke einfügt. Die Lost Places ähneln einer solchen Zeitkapsel. Die Öffnung zum Entdecken der Inhalte obliegt dem Betrachter.