GESCHICHTEN 4 | 3:00 Min
Am Anfang stand Befehl Nummer 78 der SMAD. Ziel des Ukas aus Berlin-Karlshorst war die Schaffung von Strukturen zur rechtzeitigen und regelmäßigen Versorgung der deutschen Bevölkerung in der Sowjetischen Besatzungszone Deutschlands mit politischer Information.
Lokal ausgerichtet war das Vorhaben zunächst nicht, im Mittelpunkt sollte die Verbreitung des Rundfunksenders Berlin stehen, dazu noch die Übernahme ausgewählter Beiträge von Radio Moskau. Der 1. November 1945 wurde zum Anschlusstag für Leipzig an die neue Radiowelt. Von Anfang an war dabei auch ein sogenannter Leitungsrundfunk über öffentliche Lautsprecher geplant.
Rundfunkstudio im Rathaus
Als 1949 die Verwaltungshoheit zunehmend an deutsche Behörden überging, zeigte sich die Landesregierung Sachsen interessiert, einen Leipziger Stadtfunk durch die Stadtverwaltung führen zu lassen und erforderliche Mittel bereitzustellen. Im Januar 1950 gab man bei RFT Leipzig, der Herstellervereinigung für Rundfunk- und Fernmeldetechnik, eine noch Besprechungsanlage genannte Sendezentrale in Auftrag. Die nicht geringen Kosten beliefen sich auf circa RM 240.000.-.
In der Anfangszeit sendete der Stadtfunk aus dem Raum 312 des Neuen Rathauses sein Agitprop-Programm. Montags bis freitags sowie sonnabends von 7 bis 22 Uhr strahlte man es über die Tonsäulen an belebten Plätzen der Stadt aus. Ferner diente der Sender auch als ein akustisches Amtsblatt: Zu Veranstaltungen, über die allgemeine Versorgungslage oder die Belieferung mit Lebensmittelkarten informierte man die Bevölkerung. Was heute ausgefallen wirkt, lag im Trend der Zeit. In ausgewählten Schnellzügen unterhielt der Zugfunk live mit einem Info- und Musik-Mix, größere Betriebe informierte ein eigenes Betriebsfunk-Studio zu den Themen der Zeit.
Stadtfunk Leipzig, es ist 16 Uhr 30
Das Stadtfunk-Jingle mit dem markanten musikalischen Motiv B-A-C-H des Thomaskantors erklang nicht nur werktags, sondern auch zu Festtagen wie dem 1.Mai oder 7.Oktober. Begeisterte Zuhörer fanden sich zu sportlichen Großveranstaltungen wie der Friedensfahrt oder den Deutschen Turn- und Sportfesten. Auch die 800-Jahr-Feier Leipzigs im Jahr 1965 bot Anlass für manche Sondersendung.
Etwa 100 Tonsäulen standen zu den besten Zeiten des Stadtfunks auf stark belebten Plätzen, an Straßenbahnhaltestellen und frequentierten Straßenzügen, auch Taucha und Markkleeberg waren an das Netz angeschlossen. Zum Programm gehörten Nachrichten und aktuelle Meldungen aus dem Stadtgebiet, Veranstaltungstipps, Sportmeldungen und ein Polizeigespräch. Vor dem Wochenende rundete ein Live-Wettergespräch das Angebot ab. Als Prime-Time für die Sendungen erwies sich zumeist der Berufsverkehr. Zu den Tonsäulen auf öffentlichen Plätzen kamen noch Lautsprecher in Werkskantinen und Versammlungsräumen.
In den späten 1980er Jahren ließ das Interesse an den öffentlichen Sendungen nach, der Stadtfunk sendete in der Regel nur noch zu drei Terminen an Wochentagen für jeweils etwa 20 Minuten. Die Kommunalwahl am 7. Mai 1989 begleitete der Sender in altbewährter Manier mit Jugend- und Kampfliedern, flankiert von den wiederkehrenden Aufrufen: Wählt die Kandidaten der nationalen Front!
Unerwartet im Mittelpunkt
Im Demo-Herbst 1989 spielte der Stadtfunk eine besondere Rolle. Mit dem Aufruf der Leipziger Sechs vor der mit Nervosität und Spannung erwarteten Demonstration am 9. Oktober 1989 befand sich der Stadtfunk Leipzig plötzlich inmitten der turbulenten Ereignisse. Absender des Aufrufs waren Professor Kurt Masur, Pfarrer Dr. Zimmermann, Kabarettist Bernd-Lutz Lange sowie die Sekretäre der SED-Bezirksleitung Dr. Kurt Meyer, Jochen Pommert und Dr. Roland Wötzel. Den ursprünglich zum Verlesen bei den Montagsgebeten verfassten Aufruf strahlte man im Nachmittagsprogramm des Senders Leipzig aus. Mit dem Stadtfunk jedoch erreichte er die mehr als 70.000 Demonstranten auf Leipzigs Straßen, ebenso Ordnungskräfte und Anwohner. Verlesen wurde der Aufruf von Kurt Masur: Wir bitten dringend um Besonnenheit, damit der friedliche Dialog möglich wird. (...) Wir sind von der Entwicklung in unserer Stadt betroffen und suchen nach einer Lösung. Wir alle brauchen freien Meinungsaustausch über die Weiterführung des Sozialismus in unserem Land.
Aus dem neuen Alltag gefallen
Mit der politischen Wende rückte der Service-Anteil der Informationen in den Vordergrund. Dennoch kam es zu manchen Diskussionen um das Für und Wieder eines eigenen Stadtfunks in der neu aufgestellten Medienlandschaft. Am Ende sorgten der Hinweis auf die Einmaligkeit in Deutschland und ein Machtwort des Oberbürgermeisters für den vorläufigen Weiterbetrieb. Die Sächsische Landesmedienanstalt als Aufsichtsbehörde läutete 1993 schließlich das Ende des Leipziger Stadtfunks ein. Da der Sender die laut Rundfunkstaatsvertrag geforderte Staatsferne nicht erfüllte, konnte keine Lizenz vergeben werden. Die Ausschreibung nach einem neuen Eigentümer führte man 1994 durch, unter den drei Bewerbern erhielt der private Sender Radio Leipzig den Zuschlag.
Das Ende kam schleichend. 1998 standen noch circa 47 Tonsäulen, doch nicht einmal die Hälfte davon war funktionstüchtig. Bauarbeiten als auch Vandalismus beschädigten zahlreiche Leitungswege und Anlagen. Für Reparaturen fehlte das Geld ebenso wie der Wille, das unzeitgemäß gewordene Medium sinnvoll weiterzuführen. Am 18.Oktober 1998 ertönte die letzte Sendung aus den Lautsprechern des Stadtfunks. Noch einmal erlebte der eigenwillige Sender einen Tagesauftritt, als am 9. Oktober 2014 das Onlineradio detektor.fm die Besucher des Leipziger Lichtfestes mit Originaltönen zu historischen Momenten entlang des Innenstadtrings in die Zeit des Stadtfunks zurückholte.