ERKUNDUNGEN 4 | 3:15 Min
Auffällig ist eine Faszination am Reiz der verlorenen Orte, der Erfurcht vor den stummen Zeitzeugen und dem Verfall. Sie präsentieren sich immer wieder in ähnlichen Schlagworten. Eine Spurensuche bietet drei aufschlussreiche Annäherungen an diesen Themenkreis.
Lost Places liegen im Trend. Längst kursieren auf YouTube diverse Rankings über verlorene Orte, die man unbedingt gesehen haben muss. Das Teilen genannte Verwursten mittelprächtiger Handybilder verlassener Orte bleibt im Dunstkreis von cool und geil. Ausstellungen in diversen Galerien sind allerorten zu finden. Für unbedarfte Hobbyknipser bieten Volkshochschulen inzwischen Lost-Places-Kurse an. Die Frage nach den Besonderheiten der Lost Places bleibt dabei halb beantwortet im Raum stehen und verhallt. Sind es morbider Charme, Erinnerung, Nostalgie, Sehnsucht? Auch der etwas schräg übernommene Anglizismus Lost Places steht einer sinnvollen Deutung im Weg.
Abandoned Places – verlassene Orte – wäre eine passendere Bezeichnung, die auch häufig im englischen Sprachraum anzutreffen ist. Doch ob verlassen oder verloren: Im Kontext des Projektes ZeitBrüche soll dieser Unterschied nicht stören, weder der eine noch der andere Begriff ist in der Lage, Wesentliches zu dem Phänomen auszusagen. Folgt man den häufig verwendeten Beschreibungen, führen Begriffe wie Verfall, Tristesse, Vergangenheit und Vergänglichkeit zu einer heißeren Spur.
Spur eins: Außerhalb der Zeiten
Bildlich gesprochen sind die Lost Places genannten Orte aus unserer aktuellen Zeit gefallen. Dies gleich in zweifacher Hinsicht: Einmal trotzten sie Fortschritt und Modernisierung, hielten lange Zeit aus, blieben weitestgehend unverändert in ihrer ursprünglichen Struktur und Substanz bestehen. Viele der heutigen verlorenen Orte haben auf diese Weise lange Zeit als scheinbar dauerhafte Provisorien verharrt.
Irgendwann war in diesem Prozess der Punkt einer Rückkehr aus ihrer ausharrenden Vergangenheit in die aktuelle Zeit überschritten, eine sinnvolle Veränderung oder Modernisierung ausgeschlossen. Was blieb, war ein Verharren zwischen den Zeiten, zwischen dem Einst und der Zukunft. Im Jetzt sind sie nicht mehr zu gebrauchen und ein Zurück in das Gestern ist nicht möglich, es gibt bereits genug Orte, die unter dem Deckmantel angeblicher Authentizität von einstigen Zeiten künden.
In der anderen zeitlichen Richtung fallen die Lost Places für die Zukunft ebenso aus der Zeit. Sie stehen als anachronistischer Rest eines Gestern der aktuellen Zeit entgegen. Nicht allein im übertragenen Sinn stehen sie im Wege. Viele sind tatsächlich unwiederbringbar verloren. Beim notwendigen Stadtumbau geben alte Fabrikhallen bestenfalls Hülle und Fassade für die Umgestaltung in Lofts und Einkaufszentren. Von der einstigen Nutzung bleiben allein einige Elemente erahnbar, wenngleich die einstige Funktion nicht konserviert werden kann.
Die Lost Places stecken fest zwischen den Zeiten. Ein Zurück gibt es nicht, ein weiteres Verharren ohne Veränderung ist ebenfalls unmöglich. Was einzig bleibt, ist der Untergang im langsamen Verfall. Allenfalls flüchtige Erscheinungenen sind für einen Augenblick noch zu fassen. An ihm kann eine Verbindung, eine Schnittstelle zwischen den Zeiten, zwischen dem Gestern und Morgen, zaghaft wahrgenommen oder erahnt werden kann. Das aktuelle Zeitgeschehen läuft währenddessen unerbittlich weiter, lässt solche Artefakte und Orte verblassen und verschwinden.
Spur zwei: Anleihen aus der Romantik
Im Hier und Heute haben die Lost Places ihre ursprüngliche Funktion verloren, an den noch auffindbaren Resten lässt sich ihre einstige Bedeutung aber noch erahnen. Dieser Punkt verweist auf eine lange und interessante Traditionslinie der Geistesgeschichte. So zeigten besonders die Denker der Romantik starkes Interesse an baulichen Ruinen sowie am Fragment als literarischer und gedanklicher Form. Diese Rückgriffe in das Denken des vorvergangenen Jahrhunderts sind weder Rückschritte noch Kehrtwendungen.
Die Ansätze der Romantik belegen vielmehr, dass man im Zuge von Aufklärung, Französischer Revolution und Industrialisierung eine radikale wie tiefgreifende Modernisierung aller Lebensbereiche zu bewältigen hatte. So ist es nicht verwunderlich, dass durchaus ähnliche Erfahrungen und Probleme thematisiert wurden, die auch in unserer jetzigen Zeit von Interesse sind. Viele neuzeitliche Denkansätze als auch die Grundthemen postmoderner Akteure haben diese Thematiken aus der Romantik aufgenommen und neu formuliert.
Spur drei: Das Schöne und das Erhabene
Der Begriff des Erhabenen in der uns geläufigen Bedeutung stammt aus den Debatten um das so genannte Kunstschöne aus dem Zeitalter der Aufklärung, die die Wissenschaftsdisziplin der Ästhetik begründeten. Seither wird das Erhabene oft neben das Schöne gestellt, die damit ein verwandtes und dennoch unterschiedliches Themenpaar bilden.
Zahlreiche Künstler und Philosophen haben mit dem Bezug auf das Erhabene versucht, sinnlich nicht Fassbares begreifen zu können oder Grenzerfahrungen in ihr Denken einzubeziehen. Die sinnlich wahrnehmbare und gedanklich schwer zu erfassende Größe, die mit dem Erhabenen begrifflich verbunden wird, vermittelt dabei gleichzeitig etwas Unerreichbares als auch Unbeschreibliches. Darin sind Momente von Schmerz und Gefahr ebenfalls eingeschlossen. Ein spannendes Thema für eine weiterführende Spurensuche.