MILITARIA 15 | 3:50 Min
Die Nordspitze der Insel Usedom steht für zeitliche Brüche, wie sie radikaler kaum sein können. Technikmythen und mörderische Geschichte finden sich eng verwoben. Über Jahrzehnte blieb die Mündung des Peenestroms ein geheimnisumwobenes Sperrgebiet.
Viele Spuren verwischte man gezielt, was den zweifelhaften Nimbus des 25 Quadratkilometer großen Geländes noch weiter beförderte. Die Idee für den Standort auf der Nordspitze der Insel Usedom soll die aus Anklam stammende Mutter des Raketenpioniers Wernher von Braun gehabt haben, deren Vater dort sein Jagdrevier hatte. Für ein abgelegenes großzügig geplantes Testgelände war die Spitze der Ostseeinsel ideal: Eine menschenleere Gegend weitab der frequentierten Bäderorte, kein Durchgangsverkehr und freies Schussfeld über 400 Kilometer nach Osten entlang der pommerschen Küste.
Im Sommer 1936 begannen die Bauarbeiten, die vom einst beschaulichen Fischerdorf nicht viel übrig ließen. Zeitweise mehr als 4.000 Zwangsarbeiter ließen in den kommenden vier Jahren die umfangreichen Anlagen heranwachsen. Ein Kraftwerk, eine Sauerstofffabrik, riesige Montagehallen, mehr als ein Dutzend Prüfstände und ein eigenes Werkbahnnetz mit über 106 Gleiskilometern Länge zeugen von der Bedeutung der Großanlage. Bis zu 12.000 Personen waren in dem damals weltweit größten Rüstungskomplex tätig. Der Gigantismus der Anlagen war jedoch kein architektonisches Programm, sondern erwuchs aus dem technischen Größenwahn der Planungen, die sich bereits an der drittnächsten Generation der zu entwickelnden Raketen orientierten.
Hauptaugenmerk galt der Entwicklung von Aggregat 4, später zur Vergeltungswaffe V2 stilisiert. Gearbeitet wurde an der Hightech-Rakete mit Hochdruck, Scharen von Zwangsarbeitern und einem großzügigen Budget. Bis zum ersten vollends gelungenen Start am 3. Oktober 1942 steckten eineinhalb Jahrzehnte technologischer Entwicklung in der Rakete. An diesem Tag erreichte der Flugkörper in 85 Kilometern Höhe die Grenzen des Weltraums. Knapp zwei Jahre später war mit 174,6 km die höchste Gipfelhöhe einer A4 erreicht.
Dramaturgische Anleihen nahmen die Raketenforscher aus dem Mainstream-Kino ihrer Zeit. Die Countdowns der Starts waren von UFA-Legende Fritz Lang entlehnt. In seinem 1929 erschienenen Film Die Frau im Mond verwendete er Texttafeln, um dem Stummfilm-Zuschauer die Spannung vor dem Start zu vermitteln. Das Ritual dieses Herunterzählens übernahmen sowohl die USA als auch die UdSSR von den Raketenexperten aus Peenemünde. Ein anderes modernes Medium hinterließ ebenfalls Spuren: Zur Kontrolle der Starts gab es am Prüfstand VII eine von Walter Bruch entwickelte Fernsehübertragungsanlage. Diese gilt als erste Anwendung des industriellen Fernsehens weltweit.
Der wichtigste Startplatz für die A4 war der Prüfstand VII. Wenngleich alle der dort erfolgten 175 Starts nur Versuchszwecken dienten, hat der Nimbus von Pioniergeist und Technikgläubigkeit manche Schrammen. Entwickelt wurde die technisch hochgezüchtete Rakete schließlich nicht als Versuchsträger, sondern als Waffe. Allein bei ihrer Herstellung starben durch unmenschliche Arbeitsbedingungen mehr Personen als bei den wenigen und wenig effizienten Angriffen. Zurückhaltende Schätzungen gehen von 16.000 Opfern aus. Die enge Verbindung zwischen der Rakete und Peenemünde stellte allein die Mythenbildung her. Von Anfang an testete hier die Luftwaffe auch anderes Gerät, verschiedene Fernlenkwaffen sowie Flugzeuge mit Strahltriebwerken und Hilfsraketen.
Die Versuchsanlagen gerieten bald ins Visier der Royal Air Force. Der unter dem Codenamen Hydra
geführte erste Großangriff galt als einer der am sorgfältigsten vorbereiteten Luftschläge der RAF. Dennoch verwüstete er im August 1943 aufgrund von Navigationsfehlern vor allem große Teile der Wohnsiedlung und des Zwangsarbeiterlagers Trassenmoor südlich des Geländes. Während man auf britischer Seite den Angriff als erfolgreich uminterpretierte, dauerte die Unterbrechung des Versuchsbetriebes kaum mehr als vier Wochen. Weitere Großangriffe erfolgten ein Jahr darauf und wiederholten sich später nahezu monatlich. Anfang November 1944 war die Heeresversuchsanstalt in Peenemünde soweit zerstört, dass von einem regulärem Betrieb keine Rede mehr sein konnte.
Der letzte Start einer A4-Rakete erfolgte am 14. Februar 1945, zwei Wochen nach dem Evakuierungsbefehl. Am 4. Mai besetzte die Rote Armee weitgehend kampflos Peenemünde. Bombenangriffe und gezielte Zerstörung ließen nur knapp ein Viertel der Anlagen unbeschädigt. Für die Dokumentation durch sowjetische Spezialisten wurde der schwer beschädigte Prüfstand IX vorübergehend wieder hergerichtet. Bis 1948 erfolgte der Abtransport noch verbliebener Einzelteile und Anlagen. Den Sprengungsbefehl führte man anschließend entsprechend der Vereinbarungen der Alliierten penibel aus.
Das Gelände der Heeresversuchsanstalt, der Hafen und das Flugplatzgelände blieben in militärischer Nutzung durch die Rote Armee, später folgten Seepolizei und Nationale Volksarmee. Das HVA-Gelände selbst nutzte man vor allem als Ort für verschiedene Schießübungen und Bombenabwürfe. Rund 6.000 Soldaten der NVA waren in Peenemünde und Karlshagen stationiert, mit ihren Familienangehörigen bildeten sie einen erheblichen Faktor in sozialen Bereichen, der Standort stützte die lokale Wirtschaft.
Mit der politischen Wende endete am 2. Dezember 1989 der Status des Sperrgebietes für die Inselspitze. Träume der Umbruchzeit flogen hoch, ebenso schnell stürzten die Planungen wieder ab. Zumeist scheiterte die Machbarkeit an der finanziellen Umsetzung der Vorbereitungsarbeiten. Auch das angedachte Projekt eines Weltfriedensparkes endete aufgrund der Kosten für die Kampfmittelbeseitigung. Schätzungen zufolge fielen hier mehr als 11.000 Spreng- und 93.000 Brandbomben. Sorge bereitet die daraus resultierende Anzahl an Blindgängern, die erfahrungsgemäß bei 10 bis 20 Prozent liegt.
Diese Altlasten schützten aber auch vor krebsartig wuchernden Ferienresorts, Marinas, Golfplätzen und anderem. Die Natur holte sich das mehr als 2.000 Quadratmeter umfassende Gelände unauffällig zurück, gut 130 Arten der roten Liste waren im Schatten militärischer Geheimhaltung ansässig geworden. Für die Zukunft will man in Peenemünde auf eine sanfte touristische Nutzung des ehemaligen Sperrgebietes setzen. Die Geschichte des Ortes steht mitunter etwas drohend im Hintergrund. Dass von der einstigen Heeresversuchsanstalt nicht viel übrig blieb, dürfte indes eher zur Anregung der Phantasie als zu einer Aufklärung beitragen. Mit dem schrittweisen Aufbau einer Denkmallandschaft, Infotafeln und geführten Touren wird seit einiger Zeit an der Entmystifizierung der Orte gearbeitet.