MILITARIA 13 | 4:45 Min
Die Nordspitze der Insel Usedom liefert Stoff für Mythen und Legenden. Im Zentrum steht dabei die V2/A4-Rakete, die 1942 auch den Beginn der Raumfahrt markierte. Nach der militärischen Nutzung versucht man eine touristische Neubelebung der Gegend.
Etwa vier Tonnen Sauerstoff verbrannten mit vier Tonnen 75prozentigem Alkohol bei jedem Start einer A4-Rakete. Das erste Sauerstoffwerk reichte für den gestiegenen Bedarf der Heeresversuchsanstalt bald nicht mehr aus. Im Jahr 1942 ging das Sauerstoffwerk II in Betrieb. Die Produktion lief bis Kriegsende, seither steht der rote Klinkerbau als Ruine. Zur Zeit des Baues waren Technologie wie Fabrik europaweit einmalig. Die Sauerstoffherstellung beruhte auf dem Linde-Verfahren, das bei -183 °C Luft in ihre Bestandteile zerlegt und Sauerstoff verflüssigt. Die Anlage errichteten Spezialisten der Firma Messer & Co. aus Griesheim bei Frankfurt. Das Verfahren war sehr energieintensiv, allein 22 der 30 kW des nahen Kraftwerks benötigte das Sauerstoffwerk. Im Dauerbetrieb konnten täglich bis zu 13 Tonnen des Oxydators gewonnen werden.
Ungewöhnlich war auch das äußere Erscheinungsbild des Sauerstoffwerkes. Der mit dunkelroten Ziegelsteinen verklinkerte Bau war in Stahlbeton-Skelettbauweise ausgeführt. Das Gebäude weist zudem eine sakrale Baustruktur auf. Auffällig ist der fünfschiffige, asymmetrische Grundriss mit neun Jochen, der dem Grundriss einer Basilika entspricht. Auch die Gebäudehöhe von knapp 21 Metern unterstreicht den sakralen Charakter. Das Sauerstoffwerk als auch das Kraftwerk blieben von Luftangriffen verschont, wenngleich von alliierter Seite die Zerstörung der Anlagen geplant war. Nach dem Krieg wurden auf Befehl der Sowjetischen Militäradministration die technischen Anlagen demontiert und in Bützow nahe Güstrow bei der Errichtung eines neuen Sauerstoffwerkes wieder verwendet. Erste Sprengungen scheiterten an der stabilen Bauweise des Gebäudes. So lebte man mit dem Kompromiss einer teilweisen Nutzung der Kriegsruine als Lager.
Das Gebäude des Sauerstoffwerkes war durch Demontage und Sprengungen zwar stark beschädigt, doch ein kompletter Abriss fand nicht statt. Während der Bauarbeiten für die Marinedienststelle im Haupthafen Peenemünde richtete die ausführende Baufirma Lagerräume und ein Büro in der Hülle des Werkes ein. Der Rest des Gebäudes überdauerte als teilgenutzter hohler Zahn die Zeiten der DDR. Die dauerhafte Nutzung von Provisorien war nichts ungewöhnliches. Im militärischen Sperrgebiet störte sich zudem niemand am Anblick der Halbruine. Kraftwerk und Sauerstoffwerk verblieben so als einzige Großbauten der umfangreichen Anlagen der ehemaligen Heeresversuchsanstalt erhalten.
Mit der Auflassung des Militärstandortes Peenemünde kamen ehrgeizige Pläne zur Nachnutzung auf, doch wirtschaftliche Berechnungen sorgten rasch für Ernüchterung. Das Gebäude des Sauerstoffwerks stand bald unter Denkmalschutz, was zwar seinen generellen Fortbestand sicherte, aber auch konkrete Sanierungsarbeiten immer wieder verhinderte. Dennoch mangelte es nicht an Plänen und Investoren, die aber zumeist an der Realitäöt scheiterten. Im Jahr 2013 kaufte die Gemeinde das Gebäude von einem Berliner Unternehmer zurück. An der generellen Pattsituation änderte das vorerst nichts.
Angesichts nicht zu beseitigender militärischer Altlasten setzt man seit einigen Jahren auf eine sanfte touristische Entwicklung unter Einbeziehung der historischen Gegebenheiten. Wichtiger Ankerpunkt ist das Historisch-Technische Museum im ehemaligen Kraftwerk. Aus Sicht des Museums und des Denkmalschutzes sind die Reste der Fabrik ein wichtiger Artefakt, bei der Gemeindeverwaltung wiederum favorisiert man einen Abriss. Allein die Sicherung wird mit zwei Millionen Euro veranschlagt, ein Betrag, der die Möglichkeiten des 300-Seelen-Ortes bei weitem übersteigt. Ob das Sauerstoffwerk zur Peenemünder Denkmal-Landschaft gehören wird, bleibt offen.
Nachtrag April 2023
Kommt nun doch ein Happy End? Die Nürnberger Immobilien-Firma terraplan erwarb das Objekt 2022. Es sollen Ferienwohnungen und Wohnungen entstehen, auch öffentlich zugängliche Räume und eine Ausstellung sind geplant. Die Einbauten in das Stahlbeton-Skelett sollen dabei in Holzbauweise erfolgen, um den Charakter der 70 Meter langen, 21 Meter hohen und 20 Meter breiten Halle nicht zu zerstören. Die Firma hat einschlägige Erfahrungen, ihr Umbau des Olympischen Dorfes von 1936 in Elstal erhielt den German Design Award 2020.