ERKUNDUNGEN 12 | 4:20 Min
Wohl jedem ist die Melancholie bekannt, doch das Phänomen erweist sich als regelrechter Steinbruch. Kluge Köpfe haben sich redlich um Annäherung bemüht. Mit den Ausbrüchen aus der Zeit streift die Melancholie interessanterweise auch das Phänomen der Lost Places.
Die einflussreichsten Beschreibungen der Melancholie gehen auf die antiken Gelehrten Hippokrates und Galen zurück. Sie begründen die Humoralpathologie, die Lehre von den vier Körpersäfte und ihrem Verhältnis zueinander. Sie eröffnet die systematische wissenschaftliche Beschäftigung mit dem menschlichen Körper. Zu den Humores genannten Säften gehören Blut, gelbe Galle, schwarze Galle und Phlegma. Bald entsteht um die Säftelehre ein umfangreiches Theoriegebäude, das das komplette Wissen jener Zeit einordnet. Den Säften werden menschliche Organe, Elemente, Jahreszeiten, Lebensalter und Temperamente zugeordnet. Die Schwarzgalle ist mit der Milz verbunden, steht für das Element Erde und charakterisiert sich im Lebensalter des alten Mannes. Wer zuviel der schwarzen Galle in sich hat, ist Melancholiker.
Dieser Überfluss wurde nicht nur für Schwermut verantwortlich gemacht, sondern auch für Schlaganfälle, Flatulenz, Gefräßigkeit, Wurmbefall und anderes mehr. Unter dem Einfluss der Astrologie ergänzt man später die Säftelehre um die Beziehungen zu den Gestirnen und ihrem Einfluss. Zahlreiche symbolische Bedeutungen und Erklärungsmuster treten hinzu und schaffen Raum für weitere Interpretationen. Der Stern der Melancholie ist der Saturn – zweideutig, unheimlich und faszinierend.
Saturn als Stern der Melancholie
Die Figur der alten Gottheit Saturn alias Chronos ist eine der komplexesten in der römischen Mythologie. Nicht umsonst waren die Saturnalien auch das Hauptfest der Römer. Chronos, auch für die Zeit stehend, verschlingt seine Kinder und wird später selbst entthront. Er präsentiert eine dunkle Urkraft und steht für die Herrschaft über Schöpfung als auch Zerstörung. Die Bedeutungen und Zuschreibungen zum Phänomen der Melancholie sind zahlreich und umfassend, zudem auch regional und zeitlich unterschiedlich. Sie bieten viel Platz für Interpretationen. Doch ob Melancholia, Tristitia saeculi, Mönchskrankheit oder Trägheit des Herzens, sie gelten als negative Kräfte, präsentieren Krankheiten, für manche zählen sie gar zu den Todsünden.
Mit der Neuzeit und dem Zeitalter der Aufklärung wird auch die Melancholie neu entdeckt. Es sind zahlreiche Künstler, die sie nun als Sehergabe auffassen und als produktiven Furor ansehen. Der von Jean Paul postulierte Weltschmerz wird zum künstlerischen Antrieb erhoben. Das Krankheitsbild melancholia wird durch die Auffassung von der melencolia generosa abgelöst. Sie ist ein mitunter leidvoller Seelenzustand, der den musisch inspirierten, schöpferischen Menschen zuweilen heimsucht. Doch dieser Zustand ist kein Absturz ins vollkommen Dunkle. Genie ist derjenige Künstler, der sich melancholisch fühlt und es nicht nur ist. Wichtig bleibt der Wechsel zwischen hell und dunkel. Dem entspricht auch der Zustand einer fortdauernden und nie aufhörenden Annäherung. Der Abstand zum Ideal bleibt präsent, das Prinzip ähnelt dem des Fragments, einem der prägenden ästhetischen Ideale der Romantik.
Aufschlussreiche Bezüge zur Zeit
Melancholie wird unter diesem Blickwinkel auch als Ausrücken aus dem fortlaufenden Zeitgeschehen verstanden. Das kann ein gutes Korrektiv sein: Grübeln als Alternative zum kopflosen Aktionismus, Melancholie als produktives Innehalten. Eine interessante Parallele, denn ein Ausscheren aus dem Zeitgeschehen kennzeichnet auch die Objekte, die als Lost Places oder Abandoned Places gelten. Sie sind aus ihrer Zeit gefallen, weisen auf Brüche hin und widersetzen sich dem Bild einer einheitlich ablaufenden Zeit. Damit verweigern sie sich letzten Endes einer eindeutigen Einordnung.
Melancholiker haben es heute unter den Selbstoptimierern im 24/7-Online-Modus schwer. Zuviel Nachdenken, zumal über das, was alle zu denken haben, ist suspekt. Das Ausrücken aus dem Zeitgeschehen ist von der neuen Volkskrankheit Burnout subsumiert worden. Umtriebige Krankheitserfinder haben der Melancholie und ihren Symptomen den Gang zur professionellen Problembehandlung geebnet. Melancholische Künstler werden potentielle Patienten. Tröstlicherweise bleibt das Phänomen Melancholie unergründlich – Es ist letztlich weder zu beweisen noch zu widerlegen.