Die Leipziger Löwenschlacht


Lokale Posse mit Symbolgehalt

  GESCHICHTEN   4 | 3:20 Min

Nicht auszudenken, wenn ein politisches Großereignis, ein Zirkus, acht Bier und lebendige Leipziger Wappentiere an einem Abend aufeinandertreffen! Hätte sich die Geschichte jemand ausgedacht, würde man ihm gnadenlose Übertreibung vorwerfen. Passiert ist es trotzdem.

Ansichtskarte Löwenschlacht
Ausgebüchste Zirkuslöwen hielten einen Abend lang die Stadt in Atem, die Possenreißer noch länger
[Public domain, via Wikimedia Commons]

Am 19. Oktober 1913 beweist die Realität, dass man sich so etwas nicht auszudenken braucht. Doch der Reihe nach. In den Mittelpunkt des Geschehens setzt sie den Wanderzirkus Barum. Er gastiert nicht grundlos in der Messestadt, denn an jenem Wochenende steht die Einweihung des Völkerschlachtdenkmals an. Als großer öffentlicher Zirkus mit Kaiser und König lockt das Ereignis die Menschenmassen an. Die Stadt ist illuminiert, die Leipziger und zahlreiche Gäste sind auf den Beinen. Doch die Stimmung im Lande und in der Stadt ist aufgereizt, es kommt zu Anti-Kriegs-Protesten, Gerüchte über einen Anschlag machen die Runde. Doch der Tag verläuft ruhig, wenngleich die Stimmung unter den allerhöchsten Gästen etwas verschnupft wirkt.

Durst versus Pflichtgefühl

Ein ernster Zwischenfall folgt am nächsten Abend. Nach seiner Sonntagsvorstellung zieht der Zirkus Barum weiter, in Köthen steht das nächste Gastspiel an. Von den Frankfurter Wiesen im Westen rollen die Zirkuswagen zum Verladebahnhof in Eutritzsch. Die Kutscher zweier Tiertransporte jedoch unterbrechen ihre Fahrt vor der Wirtschaft Graupeter in der Berliner Straße. Kurz vor dem Ziel besiegt ihr Durst das Pflichtgefühl. Vor Gericht wird später gestritten, ob es vier oder acht Bier waren. Fakt ist, dass den Pferden des hinteren Wagens dabei die Zeit lang wird. So zotteln sie ohne Geschirrführer weiter. Der Löwenwagen vor ihnen nimmt dabei Schaden und blockiert die Straße. Eine herannahende Straßenbahn fährt im aufziehenden Nebel in die Unfallstelle und macht das Chaos komplett. Acht der zehn Löwen suchen ihr Heil in der Flucht.

Zu den ersten Zeugen gehört Schutzmann Bruno Weigel, dem die Nachwelt einen plastischen Bericht der Ereignisse verdankt. Ich beschleunigte meine Schritte, nahm meinen Säbel im Laufschritt in die Hand und lief in die Richtung, aus der die Rufe kamen. Als ich an der Gastwirtschaft Graupeter angelangt war, sah ich im Nebel zwei Zirkuswagen stehen, hinter denen die Straßenbahn hielt. Zur gleichen Zeit bemerkte ich, wie einige Löwen unablässig auf die Pferde sprangen, die vor die Wagen gespannt waren. Nun gab es für mich kein Überlegen mehr. Ich zog meinen Revolver – wir hatten damals nur Trommelrevolver – und schoss meine sechs Patronen auf die Löwen ab.

Postkarte Jagdtrophäen
Eine Woche lang waren die Trophäen von Abdul, Simba und Suleika Besuchermagnet im Leipziger Zoo
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Weigel mobilisiert sogleich Verstärkung. Auch Passanten sind noch zahlreich unterwegs. Mit Stock und Schirm bewaffnet, strömen sie herbei und begleiten an der Seite von siebzig Schutzmännern die Löwenjagd. Fünf der Wildkatzen sind bald zur Strecke gebracht. Die anderen drei suchen instinktiv Schutz vor dem Aufruhr. Löwin Polly sorgt auf ihrer Flucht ins nahe Hotel Blücher für die meisten Schlagzeilen. Den aufgeschreckten Hotelgästen gelang es, das nicht weniger aufgeregte Tier in einer Toilette festzusetzen. Pollys Rettung naht in Gestalt des hinzugerufenen Zoodirektors Dr. Johannes Gebbing. Mit Oberwärter Hermann Fischer und seinen Helfern gelingt es ihm, das Tier in eine Transportkiste zu locken.

Wenig waidmännisches Ende

Auch in einem Hinterhof in der Berliner Straße geht dieser Trick noch einmal auf. Doch für den letzten Ausreißer, den posthum berühmt gewordenen Löwen Abdul, hält die Dramaturgie ein tragisches Ende parat. Gebbings Memoiren geben Auskunft zur Großwildjagd im Verladebahnhof: Es war ein fantastisches Bild, dieser stattliche Löwe im schwankenden Licht suchender Laternen zwischen den Gleisen, umgeben von einer Kette mit Revolvern bewehrter Polizisten. 'Nicht schießen!' schrie ich. 'Um Gottes willen, nicht schießen!'. Dann ging ich vor. Ich hatte wieder einen Käfig bereit, in den ich den Löwen hineinschmeicheln wollte. Bei der unsicheren Beleuchtung mag das bedenklich ausgesehen haben. Jedenfalls ging ein Revolver los. Der Autopsie-Bericht konstatiert später wenig waidmännische 165 Einschüsse aus 50 Waffen.

Postkarte Löwentrophäen
So sahen Sieger aus: Die stolzen Schutzleute des 8. Reviers mit ihren Jagdtrophäen
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Es nimmt nicht Wunder, dass diese ungewöhnliche Mischung aus Heroismus und Banalität reichlich Stoff für Satiriker und Spötter bot. Der hundertste Jahrestag der Völkerschlacht, der Meißnische Wappenlöwe und die berühmte Löwenzucht des Leipziger Zoos lieferten im Hintergrund weitere Bestandteile für abenteuerliche Ausschmückungen. Zahlreiche Motive wurden wurden immer wieder angereichert und variiert. Zur medialen Verbreitung trugen Postkarten als auch die beliebten Reklamemarken zum Sammeln bei. Sie widmen dem Ereignis gleich mehrere Serien. Fremdenverkehr und Gastronomie in Leipzig nutzen den Medien-Hype geschäftstüchtig aus.

Hotelwerbung auf Postkarte
Noch lange nutzten Hoteliers und Gastronomen die Geschehnisse der Löwenjagd zur Werbung
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Auch Leipzigs Traditionsgaststätte Auerbachs Keller nutzte mit einer Löwen-Speisen-Karte das Ereignis für Publicity. Löwenschwanzsuppe, Löwenschnitzel und anderes mehr ergänzten eine Zeitlang Goethe, Faust und den Fassritt. Dass kein echtes Löwenfleisch verarbeitet wurde, störte das Publikum nicht wirklich. Der lokale Löwen-Boom überlebte noch Jahrzehnte. Hoteliers und Gastronomen luden zu musikalisch-literarischen Abenden, noch Jahrzehnte später kredenzte das DDR-Interhotel Zum Löwen seinen Gästen ein Nussparfait Polly.

Eher nüchtern verlief die gerichtliche Aufarbeitung. Geschirrführer Schmelzer wurde im Dezember 1913 wegen Zuwiderhandlung gegen § 151 der Verkehrsordnung zu fünf Tagen Haft oder 25 Mark Geldstrafe verurteilt, Zirkusdirektor Artur Kreiser zu zehn Tagen oder 100 Mark Strafe wegen Unterlassung erforderlicher Vorsichtsmaßregeln (...) bei der Haltung bösartiger oder wilder Tiere entsprechend § 367 Ziffer 11 StGB. Das Gericht wollte den Fall mit wenig Geräusch rasch beenden.

Das Hotel Blücher ging im Bombenhagel des Zweiten Weltkriegs unter, das verfallene Gebäude der Graupeter-Kneipe wurde nach 1990 abgerissen. Schutzmann Bruno Weigel starb 1955 als Kriminalkommissar im Ruhestand. Seine etwas heroische Grabstein-Inschrift Am 19.Oktober 1913 kämpfte er in Leipzig mit acht ausgebrochenen Löwen sei ihm gegönnt.