Schön. Oder erhaben?


Aufschlussreiche Erklärungen zu Lost Places

  ERKUNDUNGEN   3 | 3:30 Min

Seit Menschengedenken läuft man dem Schönen und seiner begrifflichen Inbesitznahme per Definition mehr oder minder erfolgreich hinterher. Rückgriffe auf eine Ästhetik des Erhabenen liefert wichtige Puzzlesteine zur Annäherung an das Phänomen Lost Places.

Nachthimmel mit Mond
Der Erdtrabant am Nachthimmel sieht schön aus, sollte aber der Kategorie Erhabenes zugeordnet werden

Die Faszination von Kunstwerken aller Art faszinierte lange schon die Gelehrtenwelt. Meist versuchte man, das Schöne in ein allgemeingültiges Schema zu fassen oder ersann Konstrukte, es in den geistesgeschichtlichen Kontext der Zeit oder die eigene Weltordnung einzubinden. Zumeist waren es auch die ganz tiefen Fragen nach dem Sinn des eigenen Daseins, die unzählige Suchende antrieben. Die Philosophie war eng mit diesen Bestrebungen um die Schönheit verbunden. In ästhetischen Theorien gehörte die Beschäftigung mit ihr seit der Antike zu den wichtigsten Themen.

Philosophische Annäherungen

Das Schöne war zumeist nicht allein anzutreffen. Beim antiken Philosophen Platon steht die Idee des Guten, Wahren und Schönen als ein großes untrennbares Grundprinzip im Mittelpunkt. Auch andere Denker versuchten, Schönheit in ihre Weltsichten und Lehren sinnstiftend einzuordnen. Mit der Aufklärung begann man, auch Wesenszüge des Schönen und der Kunstproduktion rational und gesamtheitlich zu fassen. Etwa Mitte des 18 Jahrhunderts entwickelte sich im nächsten Umfeld der Philosophie die Ästhetik schließlich als eigenständige Wissenschaftsdisziplin. Im Bemühen, die Welt zu erkennen, setzte man sich auch allen Schwierigkeiten aus, um das Schöne als auch die sinnliche Wahrnehmung zu erklären und damit begreifbar zu machen.

Statuen griechischer Philosophen
Bereits die Philosophen der griechischen Antike beschäftigten sich mit dem Schönen

Ein Begriffspaar entsteht

Seit jener Zeit hat sich zum Schönen das Erhabene fest hinzugesellt. Das Begriffspaar ist in unterschiedlichen Theorien immer wieder eng beeinander zu finden. Dabei ist das Erhabene keine Erfindung der Neuzeit, bereits Aristoteles griff im antiken Griechenland in seiner Tragödientheorie auf den Begriff zurück. Auch in Stillehren antiker Rethoriker spielt es eine Rolle, wenngleich der Inhalt des Begriffs sich von dem der Neuzeit unterscheidet.

Besonders gründlich und mit nachhaltiger Wirkung nahm sich der Philisoph Immanuel Kant des Themas an. In der Kritik der Urteilskraft, dem zeitlich letzten seiner drei Hauptwerke, widmet er sich der Frage nach dem Schönen: Schön ist das, was in der bloßen Beurtheilung (also nicht vermittelst der Empfindung des Sinnes nach einem Begriffe des Verstandes) gefällt. Hieraus folgt von selbst, daß es ohne alles Interesse gefallen müsse. Erhaben ist das, was durch seinen Widerstand gegen das Interesse der Sinne unmittelbar gefällt.

Caspar David Friedrich - Der Mönch am Meer
C. D. Friedrichs Gemälde Der Mönch am Meer gehört zu den bekanntesten Darstellungen des Erhabenen [Quelle: Wikipedia]

Das Erhabene als Schlüssel zum Verständnis

Wenn vom Gefühl eines übersinnlichen oder schwer fassbaren Vermögens die Rede ist, denkt man wahrscheinlich nicht unmittelbar an banale Dinge wie Lost Places. Doch bei näherer Betrachtung eröffnen sich zahlreiche Parallelen. So sind in zahlreichen Texten zu Lost Places immer wieder Verweise auf einen geheimnisvollen Zauber oder eine Magie der vergessenen Orte zu finden. Auch die häufig verwendete Metapher von der faszinierenden Schönheit des Verfalls zielt in ebendiese Richtung.

Es ist das rational nicht Fassbare dieser Orte, die einstige Bedeutung, die an ihnen durchschimmert, ohne sinnlich oder rational völlig erschließbar zu sein. Nicht selten werden mit den Lost Places auch ganzheitliche Erlebnisse zu vergangenen Zeitabschnitten oder damit verbundenen Themen in Beziehung gesetzt. All diese Intentionen legen Rückgriffe auf die Kategorie des Erhabenen nahe, die in diesem Zusammenhang Nicht-Begreifbares begreifbar machen soll.

Die Postmoderne, jene Denkrichtung, die Anfang der 1980er Jahre das Ende der großen Erzählungen und die radikale Befragung der Moderne postulierte, machte das Erhabene in zeitgenössischen Diskussionen wieder salonfähig. Man beendete damit die Vernachlässigung nicht-rationaler Denkansätze, die im Zeitalter der Moderne in Verruf geraten waren. Viele Antworten auf aktuelle Fragen sind nach Ansicht postmoderner Denker auf einer rein rationalen Ebene nicht mehr zu finden. Hinzu kommt, dass die komplexe globale Wirklichkeit kaum noch vollständig erfasst und rational erklärt werden kann.

Postmoderne trifft Romantik

Für den französischen Philisophen Jean-François Lyotard ist auch die Kunst der Moderne eng mit der Ästhetik des Erhabenen verbunden. So stehen nicht allein die sinnliche Wahrnehmung und der Genuss von Kunstwerken im Mittelpunkt. Über das Kunstwerk verbindet die Kunstbetrachtung den eigenen Standpunkt und die uns umgebende Welt. Wichtig ist in diesem Zusammenhang auch, dass moderne Kunst die Möglichkeit besitzt, das Unsichtbare im Sichtbaren darzustellen. Ganz ähnlich einem baulichen Fragment, das zwischen seinen beiden Grundzuständen, dem Einst und Heute, in einer Zwischenzeit verharrt.

Hier treten deutliche Parallelen zur Philosophie und Kunstbetrachtung der Romantik zutage. Man empfand die Zerrissenheit und Unübersichtlichkeit der Welt, setzte Ironie, Fragment und Unerklärbarkeit an eine zentrale Stelle des Denkens. Im Jenaer Kreis der Frühromantiker hat es Friedrich Schlegel in seinen Athenäumsfragmenten schlüssig gefasst: Gemüt ist die Poesie der ehabenen Vernunft, und durch Vereinigung mit Philosophie und sittlicher Erfahrung entspringt aus ihr die namenlose Kunst, welche das verworrne flüchtige Leben ergreift und zur ewigen Einheit bildet.